"Yellowjackets": Esse sich, wer kann (2024)

"Yellowjackets" ist die beste Horrorserie der Gegenwart. Weite Teile eines Fußballteams überleben darin einen Flugzeugabsturz. Und dann heißt es: Friss mich, Freundin.

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Dieser Text enthält Spoiler für die erste und zweite Staffel von "Yellowjackets".

Jackie und Shauna sind die bestenFreundinnen. Selbst im größten Sauwetter sitzen die beiden zusammen draußen undreden, über das Leben und über die anderen, mit denen sie hier, in einer altenJägerhütte in der Wildnis, gerade die Zeit totschlagen. Gemütlicher wäre essicher, hinein ins Warme zu ziehen, das aber geht nicht, denn Jackie (Ella Purnell) isttot, erfroren in den Wäldern von Ontario, und Shauna (Sophie Nélisse) führt Gespräche mitihrer Leiche. Sie schminkt ihre verstorbene Freundin sogar mit Hingabe, guckt täglich nach ihremBefinden und steckt sich irgendwann, als ihr Körper zu zerfallenbeginnt, eins ihrer Ohren in die Tasche wie einen Talisman.

Allein diese Szene, zu sehen in derersten Folge der zweiten Staffel von Yellowjackets, erzählt eine Mengeüber die derzeit tollste Horrorserie überhaupt. Sie handelt von einemjugendlichen Frauenfußballteam, das im Jahr 1996mit dem Flugzeug in den Wäldern Kanadas abstürzt und dort (zusammen mit genaudrei Männern) fortan zu überleben versucht, mit aller Gewalt natürlich. Auf derzweiten Zeitebene der Serie, im Jahr 2021, holt die erwachsenen Überlebendenihre Vergangenheit ein. Was damals im Wald vonstattenging, ahnt man von Beginnan: Gleich in der ersten Folge sieht man in einer verstörenden Vorschau aufalles Kommende, wie ein Mädchen in Todesangst durch den Wald rennt, in einerGrube gefangen, getötet und schließlich rituell gegessen wird von martialischmaskierten Gestalten in Tierfellroben und bunten Chucks.

Eine Serie macht viel richtig, wennman zum Start der zweiten Staffel fast vergessen hat, dass der ultimativeGrenzübertritt – die Menschenfresserei – noch aussteht. Noch wurde niemandverzehrt in der Wildnis, man hatte aber auch sonst genug zu rätseln und zugucken. Vor allem liegt das am Cast der Serie, der auf beiden Zeitebenenfantastisch ist, mit einem wirklich schönen Detail: Die erwachsenenYellowjackets werden dargestellt von Neunzigerjahreberühmtheiten, derenbekannteste Rollen in ihren Seriencharakteren aufscheinen. Juliette Lewis torkelt in ihrer Rolle als Grunge-Relikt Natalie so kaputt und zugleichresolut durch die Welt, dass man sofort an ihre Auftritte in Filmen wie NaturalBorn Killers denkt, besonders dann, wenn sie versiert mit Gewehrenhantiert.

Christina Ricci spielt Misty, den creepin der Frauenrunde, als Update einer Standardfigur im Horror. DieKrankenschwester mit Giftspritze ist in Yellowjackets Altenpflegerin,mag trutschige Eulendeko und Schokolikör, ist im Herzen aber keinStück weniger morbide als Wednesday Addams, in deren Rolle Ricci einst zum Stargeworden war. Die erwachsene Shauna stellt Melanie Lynskey mit der perfektenMischung aus Phlegma, Frustration und latenter Brutalität dar. Wie ihretragische jugendliche Figur in Peter Jacksons Heavenly Creatures istauch Shauna sehr viel abgründiger, als man es ihr zunächst zutraut.

Allein an dieser Figur tanzt Yellowjackets mehr Themen durch, als theoretisch in eine Serie mit tausend Twists undMotiven passen dürften. Als Teenager durchlebt Shauna eine scheinbar aussichtsloseLiebe zum Partner ihrer besten Freundin, auf die eine ungeplante Schwangerschaftfolgt, als Erwachsene den stillen Wahnsinn einer Person, die das Leben alsVorstadthausfrau unsichtbar gemacht hat. Yellowjackets handelt auchdavon, wohin es Frauen nach einer wahrhaft wilden Jugend verschlagen kann, vonunerfüllten Freiheitsversprechen und Selbstbetrug um der lieben Ordnung willen.

Damit den Serienschöpfern Ashley Lyle and Bart Nickerson eine so komplizierte Kiste mit Drama und Geheimnis aufzwei Zeitebenen nicht auseinanderfliegt, muss die Grundanlage simpel sein. Yellowjacketsruht auf den Säulen des klassischen Highschoolfilms, des Mysterythrillers unddes Survivalabenteuers. Gerade der Horror und die weiblichenComing-of-Age-Erzählungen der Serie sind dabei ein perfektes Match, weil Gruselnun mal so wunderbar passt zu dieser Lebenszeit, in der man realisiert, dass esdas Monster unterm Bett zwar nicht gibt, die Monster draußen vor der Tür allerdingsschon. Der sich wandelnde Körper, das eigene Begehren und das der anderen; dieAngst vor Übergriffen und die Lust darauf, sich dennoch ins Leben zu stürzen,all das ist Spitzenstoff für Horrorproduktionen. Auch Yellowjacketsist lustig, grausam und ekelhaft wie die Pubertät, dabei immer wiederunerwartet zärtlich. Raum für die Rituale einer Durchschnittsjugend istschließlich selbst in der kargsten Hütte, wenn man wild entschlossen zumErwachsenwerden ist.

Gerade diese Simulationen vonNormalität werfen einige der berührendsten Szenen der Serie ab, einige derfiesesten auch. Im Finale der ersten Staffel schmücken sich die Verschollenenfür eine Art Homecoming-Party im Nirgendwo – ein "doomcoming", wie sie esnennen – mit Mooskränzen, Blättermasken und Elchgebeinen, heulen auf MagicMushrooms wie die Wölfe gegen die Raubtiere des Waldes an, halten schließlichim Rausch den einzigen gleichaltrigen Mann in ihrer Schicksalsgemeinschaft füreinen Hirsch und jagen ihn, wollen ihn schlachten und verschlingen, während dieSchulschönheit in einer Kammer eingesperrt wird und nicht mitmachen darf. Kenntman ja irgendwie, solche Nächte.

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